Diverses : Kleinsanktpeter - Totina
 
Mitarbeit, Gesamtredaktion im Heimatbuch Kleinsanktpeter-Totina

HOG Kleinsanktpeter-Totina 1993

Bei der Erstellung der Ortschronik  Kleinsanktpeters hatte Stefan Heinz – Kehrer die Gesamtredaktion. Von fast zwanzig Mitarbeitern wurden über 100 Jahre in der Geschichte der Banater Gemeinde beleuchtet und  so entstand ein umfassendes Geschichts- und Zeitendokument , das sämtliche Bereiche des Lebens berücksichtigt, wie Ansiedlung, Bewohner, politisches-, kirchliches-, schulisches-, kulturelles- und Vereinsleben, so wie auch Brauchtum, Volksgut und literarische Erinnerungen an Totinaer Unikate und lustige Begebenheiten. Von Stefan Heinz – Kehrer sind viele Beiträge zu den verschiedensten Themen enthalten.

Die Erzählung "Das Erwachen" ist dem Buch "Kleinsanktpeter – Totina" entnommen (S. 101) und ist eine autobiografische Begebenheit aus der Kinderzeit des Autors.

Das Erwachen

Der erste Weltkrieg war zu Ende. Ich war fünfeinhalb Jahre alt, zu klein, Zusammenhänge zu erfassen. Aber die

Bilder sind noch immer lebendig, ich muss nur versuchen, sie in die richtige Reihenfolge zu bringen.

Eines Tages betrat ein K.u.K.- Infanterist unseren Hof, ein Gewehr an seiner Schulter. Meine Mutter fiel ihm um den Hals und sagte uns drei Kindern, dass dieser Fremde unser Vater sei. Scheu reichten wir ihm die Hand. Ja, sein gedrehter Schnauzbart war genau so, wie auf dem Foto, das wir hatten. Um dieses Bild hatten wir oft gestritten, jeder wollte es in der Hand halten. Während wir Buben noch verlegen herumstanden, schmiegten sich unsere Schwester, sie war jünger als wir, an den Soldaten und rief uns schnippisch zu: "Jetz kennt dr eich de papierne Vatter hole, der do is mein!"

Noch einmal musste der Vater für einige Tage in die Kaserne der Arader Festung, dann blieb er daheim – für immer.

Eine wilde Schießerei schreckte das kleine Dorf auf. Wir rannten an den Zaun und lugten die Gasse hinauf. Ein zerlumpter Haufen tobte an der Kirche, schrie "Schiwio!" und feuerte in die Luft. Als mein Bruder und ich sahen, wie die gleichaltrigen Buben aus der Dorfmitte sich um die leeren Patronenhülsen balgten, die aus den Gewehren sprangen, stürmten wir hinzu, die ängstlichen Rufe der Mutter konnten uns nicht halten.

An der Kirche hörten wir dass dies die "Serwe" seien, die neuen Herren im Lande. Jeder zweite hatte eine Schnapsflasche. Johlend zogen sie durchs Dorf, ihre Schüsse schreckten alle Hunde auf und das "Schiwio!" nahm kein Ende. Wir immer hinterher, im Kampf um die Patronenhülsen. Am Abend zogen sie ab. Die Leute im Dorf waren an diesem Tage sehr verdrossen und manche sagten: "So wie is es kumm."

Bevor die Serben für immer abziehen mussten, kamen sie noch einmal zurück, trieben sämtliche Kühe zusammen und zum Dorf hinaus. Keine einzige hatten sie zurückgelassen. Nur ein junges Rind kam am Abend des nächsten Tages zurück, stand vor dem Tor seines Herrn und brüllte um Einlass.

Die Leute sagten: "Die Serwe un unser Kieh han mer los. Jetz kumme die Walache!"

Und sie kamen. Ganz in der Stille – auf einmal waren sie da! Kein Schuss fiel, sie johlten nicht, blieben auch nicht lange. Aber – wie sahen sie aus? Waren das auch Soldaten? Hohe Fellmützen trugen sie, mit einem blau-gelbroten Band daran, aber ihre Uniform, war das überhaupt eine? Der eine trug zum Soldatenrock eine Bauernhose mit Opintschen. Der andere hatte wohl eine Soldatenhose, trug aber eine pelzgefütterte Weste. Einige trugen K.u.K.-Montur mit Rotgelbblau am Ärmel – jeder war anders. Aber – was wussten wir Kinder schon davon, wie Soldaten nach einem langen Krieg aussehen?

Bevor sie abzogen, riefen sie noch: "Traiasca Romania Mare!" (Es lebe Großrumänien!)

Die Zeiten beruhigten sich. Die Männer kamen aus der Gefangenschaft, von anderen hörte man, sie seien "gefallen" und kämen nicht mehr. Das habe ich lange nicht begriffen. Auch ich war schon oft „gefallen“, beim Laufen, beim Spielen – aber immer wieder aufgestanden! Aber die im Kriege Gefallenen – warum konnten oder wollten sie nicht wieder aufstehen? Und heimkehren? Waren sie zu müde?

Ich musste zur Schule. In die erste Klasse. Ich ging gerne zur Schule. In der ersten Bank durfte ich sitzen und war sehr aufmerksam.

Eines Tages kam unsere Lehrerin etwas später ins Schulzimmer. Wir rissen die Augen auf, als wir hinter ihr den Herrn Pfarrer, den Herrn Richter und den Herrn Schuldirektor erkannten.

Wir standen auf, sagten unser "Gelobt sei Jesus Christus" – es war mehr gesungen als gesprochen – und der Herr Pfarrer antwortete für alle: "In Ewigkeit Amen!"

Dann trat der Schuldirektor vor, deutete auf einen Buben und forderte: "Sag deinen Namen!"

Der Bub stand auf und schmetterte: "Ich heiße Reich Ferencz Janos!" "So, mein Bub", sagte der Direktor: "Von heute an heißt du: "Franz Johann Reich. Du bist kein Ungar, du bist ein Deutscher! Wiederhole!"

Und der Franzi, wie wir ihn sowieso nannten, tat wie ihm geheißen.

In der gleichen Stunde wurde aus dem Kirch "Janos" ein Johann Kirch, aus dem "Istvan" ein Stefan, aus der "Erzsebet" reine Elisabeth, aus der "Katalin" eine Katharina – und so fort bis zum Letzten in der letzten Bank.

Nur ein Mädchen, das Anna hieß, weinte: "All han se neie Name, nor ich net!"

Drei Jahre später bekam die Schule über hundert Bücher aus der Stadt. In jedem Buch stand der Name dessen, dem es mal gehört haben musste. Da konnte man lesen: Horst Müller, Paderborn, Erich Brinkmann, Bielefeld, Lieselotte Schwab, Stuttgart und so fort, viele Namen und Namen von Städten, die wir im Leben nie gehört hatten.

Und wir lasen die rührenden Geschichten von Christoph von Schmid, die Märchen der Bebrüder Grimm und den "Max und Moritz" rissen wir einander aus der Hand.

Der Vater ging im Winter zweimal in der Woche zum Gesangsverein und manchmal in die Versammlungen vom Bauernverein. Und meine Mutter – wer weiß, wo sie es her hatte – las die Bücher von einem gewissen Adam Müller – Guttenbrunn. An den langen Abenden erzählte sie uns manchmal, was sie gelesen hatte: Von der Kaiserin Maria Theresia und ihrem Sohn Josef, von den "Ulmer Schachteln" und wer mit ihnen die Donau abwärts gefahren war. Und wenn die „Bürgerzeitung“ ins Haus kam, Herausgeber Alois Pirkmayer, Perjamosch, musste ich meinem schon halb blinden Großvater vorlesen.

Warum der Minges Lehrer im Sommer 1924 öfter zu meinem Vater gekommen war, sollte sich im August zeigen. Eines Tages fragten mich Vater und Mutter, ob ich immer noch Lehrer werden wolle. Ja, das wollte ich!

Es fiel meinen Eltern schwer, meinem Wunsch zu entsprechen, wir waren kleine Leute.

Mitte September trug ich die rote Mütze des Staatlichen Deutschen Realgymnasiums von Temeswar und wohnte mit anderen gleichaltrigen Buben von überall her im Internat der Katholisch–Deutschen  Lehrerbildungsanstalt  in der Tigergasse.
Die Trennung von Dorf und Familie tat weh – aber der Weg war bestimmt und ich wollte ihn gehen.
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